Interkulturelle Herausforderungen in der technischen Kommunikation

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Wenn Menschen vom Übersetzen sprechen, die sich nicht berufsmäßig mit Sprache befassen, fällt früher oder später der Ausdruck „wörtlich“. Vor allem, wenn es um technische Texte geht, halten viele Laien das Übersetzen für eine öde, mechanische Tätigkeit: Englische Worte entfernen, gleichbedeutende deutsche Worte einsetzen, Syntax ein bisschen anpassen und fertig ist die deutsche Gebrauchsanleitung!

Ein Beitrag von Jan, Übersetzer mit einem Faible für Verbindung zwischen Kultur und Technik.

Doch wenn das so einfach wäre, gäbe es diesen Blogtext nicht, denn es gäbe gar keinen Blog und auch kein Unternehmen mit dem Namen Kontextor. Genau genommen gäbe es kein einziges Unternehmen auf diesem Planeten, das mit Übersetzungen sein Geld verdient: Die Maschinen hätten längst übernommen und wir müssten uns ein anderes Auskommen suchen.

Dass dieser Zustand bis auf weiteres nicht eintreten wird, hat mehrere Gründe, die sich fast alle in einem Wort zusammenfassen lassen: Kontext! Keine Sprache ist von der realen Umgebung zu trennen, die sie beschreibt, handhabbar macht und von der sie umgekehrt auch selbst geprägt wurde. Schon Wilhelm von Humboldt ging vor gut 200 Jahren davon aus, dass verschiedene Sprachen unterschiedliche Realitäten ordnen und auf der anderen Seite dieselbe Realität jeweils unterschiedlich strukturieren.

Sprachlicher Relativismus heißt diese Haltung, die bis heute sehr viele Linguisten haben. Bei technischen Objekten wie etwa einem Fiat 500 wirkt diese auf den ersten Blick unpassend – man möchte einwenden: „Das ist doch ganz klar ein Kleinwagen, der in den USA genau dieselben Eigenschaften hat wie in Deutschland! Und wenn sich irgendetwas extrem nah an der Ausgangssprache und -fassung übersetzen lässt, dann technische Texte aller Art.“

Das mag aus einer strikt ingenieursmäßigen und nur auf den Wagen selbst beschränkten Perspektive zutreffen. Doch ein Übersetzer, der die Betriebsanleitung dieses Fahrzeugs für die USA lokalisiert, muss etliche weitere Perspektiven und Realitäten mitdenken: Die US-Käuferin ist vielleicht an viel größere und schwerere Autos gewöhnt. Sie hat ihren Führerschein mutmaßlich mit viel geringerem Aufwand gemacht als in Europa üblich. Die Menschen fahren anders. Es gelten andere Verkehrsregeln. Und – das ist aus Herstellersicht am wichtigsten – wenn es einmal knallt, kommt es leicht zu Schadenersatzklagen mit horrenden Forderungen an den Autobauer. Konsequenz: Aus juristischen Gründen hat die eher technische Frage, wie Schäden und Unfälle zu vermeiden sind, in den USA einen ganz anderen Stellenwert als in der EU.

Bleiben wir bei dem kleinen italienischen Auto und vergleichen die Bedienungsanleitung für Deutschland und jene für die USA. Aufgrund der weitaus höheren Haftungsrisiken liegt der größte Unterschied klar im Umgang mit Sicherheitsfragen.

Das fängt schon mit der Reihenfolge der Themen an: Der deutsche Leser erfährt gleich nach dem Vorwort, welche Dinge er „bitte unbedingt lesen“ soll. Noch vor dem einzigen Sicherheitshinweis auf dieser Seite („Parken auf entflammbarem Material“) stehen die Punkte „Kraftstoff tanken“ und „Anlassen des Motors“:

Vielleicht ginge es zu weit, hiervon die Annahme abzuleiten, dass der mündige Fahrer alles andere sowieso schon weiß oder selbst herausfinden kann. Auf jeden Fall aber geht es deutlich schneller zur Sache als in der US-Anleitung. Der amerikanische Leser muss sich zu den Abschnitten „Tanken“ und „Starten“ erst mühsam vorkämpfen. Noch bevor der Autobesitzer erfährt, wie das Fahrzeug zu starten ist, bekommt er erst einmal fünf Warnungen hintereinander:

Auffällig ist aus europäischer Sicht nicht nur die Anzahl der Warnungen und ihre Position im Dokument, die den Fahrer offenbar zum Lesen nötigen soll. Auch die geradezu penetrante Wiederholung einer einzigen Botschaft wirkt seltsam – drei der fünf Warnungen sind eigentlich nur Variationen und Präzisierungen der Aussage: „Unbeaufsichtigte Kinder und Autos sind eine gefährliche Kombination“. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass Position, Wiederholungen und Präzisierungen zustande kommen, weil die Autoren nichts dem Zufall überlassen.

Auch in der deutschen Fassung sind viel weiter unten (S. 199) Hinweise zum Thema Kinder und Autos zu finden – allerdings sind diese knapp, allgemein und im Text verstreut. Da steht dann einfach nur: „Lassen Sie Kinder niemals unbeaufsichtigt im Fahrzeug.“ Für die USA hat Fiat stattdessen alle denkbaren Einzelfälle durchgearbeitet und auch noch ausführlich begründet, warum Gefahr droht: Kinder können zu Schaden kommen, wenn sie allein im Auto zurückgelassen werden, weil es innen zu heiß werden kann und das dann gefährlich für die Kinder ist.

Diese Beispiele zeigen, wie wichtig auch bei technischen Texten der kulturelle Kontext ist: Die reinen Produkteigenschaften mögen gleich bleiben, doch die Leser in einem anderen Land interessieren sich möglicherweise für ganz andere Aspekte dieses Produkts! Diese Unterschiede zu erkennen und Dokumente entsprechend zu lokalisieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben professioneller Übersetzer.
Die Seitenleiste in der deutschen Anleitung zeigt, wie weit unten im Text die Sicherheitshinweise stehen: