Nice to know
Storytelling im Marketing
03.07.2023
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03.07.2023
Better selling through storytelling – ein Leitspruch, den erfolgreiche Marketing-Expert*innen schon lange befolgen. Wenn es darum geht, eine bislang anonyme Marke in ein identitätsstiftendes Lebensgefühl zu verwandeln, sind herzerwärmende und mitreißende Geschichten das Mittel der Wahl. Doch worauf kommt es dabei an?
Coca-Cola, Ikea, BMW – hören wir die Namen dieser bekannten Brands, tauchen in unseren Köpfen nicht nur Bilder von Getränken, Möbeln und Autos auf. Wir verbinden diese Worte instinktiv mit einem bestimmten Gefühl, einer eigenen Identität und einer Story. Die charakteristische rote Cola-Dose sehen wir nicht einfach auf einem Tisch stehen, sondern in den Händen einer Gruppe lachender junger Menschen in sommerlichen Retro-Outfits. Die skandinavischen Holzmöbel verkörpern die Euphorie einer jungen Familie, die gerade ihr neues Eigenheim bezieht. Und hinter dem Steuer eines BMWs sitzt ein erfolgreicher Businessman mit lässigem Drei-Tage-Bart. Hinter solchen gedanklichen Verknüpfungen steht nichts Geringeres als geschicktes und überzeugendes Storytelling.
Aufrechter Gang, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, Werkzeuge herzustellen, sind nur einige der Merkmale, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Ein weiteres ist die Weitergabe von Wissen und Handlungsanweisungen – und dies geschieht hauptsächlich in Form von Geschichten. Denn egal ob Sagen, Heldenepen, Märchen oder Folklore: Geschichten sind ein speziell menschliches Phänomen und ziehen sich durch alle Jahrtausende und alle Kulturen. Doch woher kommt diese Erzählfreude?
Zum einen lässt sich diese Frage mit dem evolutionären Vorteil beantworten, den das Erzählen von Geschichten mit sich bringt. Denn in den Heldenerzählungen und Tragödien, die sich die Menschen seit Anbeginn der Zeit am Lagerfeuer erzählen, präsentieren sich wertvolle Weisheiten in unterhaltsamer Verkleidung. Und diese Darbietungsform hat gleich zwei Vorteile:
Zum einen zeigen Studien der Universität Stanford, dass sich das menschliche Gehirn bis zu 22 Mal besser an Fakten erinnern kann, die im Rahmen einer Geschichte gelernt werden, als an solche, die nüchtern präsentiert werden. Praktisch angewendet wird diese Einsicht zum Beispiel mit der Loci-Methode bei Gedächtnismeisterschaften. Zum anderen können Menschen durch Erzählungen ihren Erfahrungsschatz mit Erlebnissen anreichern, die ihnen gar nicht selbst widerfahren sind. Denn egal, ob man etwas selbst erlebt oder „nur“ in einer Geschichte gehört hat: Erfahrungen bleiben – sowohl psychisch als auch emotional – Erfahrungen. Das liegt daran, dass unser Gehirn mehr Regionen aktiviert, wenn das Gehörte nicht nur trockene Details enthält, sondern zusätzlich bildliche Sprache verwendet und aufregende Szenen kreiert werden. Unser Gehirn denkt dann, die aufgenommenen Informationen tatsächlich zu erleben und zu fühlen, und speichert sie als eigene Erlebnisse ab.
Die Weitergabe von Wissen durch Erzählungen sichert aus biologischer Sicht somit das Überleben einer Spezies. Und wir Menschen haben diese Fähigkeit von Generation zu Generation perfektioniert: Von den Geschichten, die man Jahrtausende alten Höhlenmalereien entnehmen kann, bis hin zum modernen Coming-of-Age-Roman.
Auch auf psychologischer Ebene gibt es viele Erklärungen für diese menschliche Besonderheit. Vor allem in der kindlichen Entwicklung spielen Geschichten eine wichtige Rolle, da sie den kleinen Zuhörer*innen dabei helfen, eine eigene Identität zu entwickeln. Die Herausbildung einer individuellen Persönlichkeit lässt sich schließlich leichter bewältigen, wenn man das eigene Denken und Handeln an anderen Menschen spiegeln kann. Das können reale Personen wie Eltern oder Lehrer*innen sein, aber auch eine beeindruckende Romanheldin wie Ronja Räubertochter. Außerdem helfen Erzählungen dabei, in eine komplexe Gesellschaft hineinzufinden, und Regeln und Verbote zu verstehen. Die Identifikation mit den Figuren hilft auch dabei, sich zu positionieren und eine sensible Auseinandersetzung mit der Umwelt zu erlernen.
Geschichten sind also ganz entscheidend bei der Entwicklung unserer Identität. Und diese Entwicklung findet nicht etwa mit dem graduellen Abflachen des unstillbaren kindlichen Geschichtenhungers ein Ende. Auch wir Erwachsene tendieren dazu, uns die Welt mit Narrativen zu erklären. Seien es die Geschichten, die wir uns wiederholt über uns selbst erzählen („Bei mir läuft immer alles schief“, „die Leute lieben mich einfach“, „ich werde das nie lernen“) oder auch die Geschichten, die uns in den Kopf schießen, sobald wir etwas Unübliches beobachten. Geschichten haben eine sinnstiftende Funktion, mit ihnen erklären wir uns unser Leben. Anstatt unsere Umwelt als Fakten-Buffet zu akzeptieren, überbrücken wir Leerstellen und Stolpersteine ganz eigenständig mit hinzugedichteten Informationen und beweisen so tagtäglich unser eigenes kreatives Potential. Ein Mann mit nasser Hose läuft uns entgegen? Der muss in eine Pfütze gestiegen oder von einem vorbeifahrenden Auto nassgespritzt worden sein. Wir erblicken ein Kind mit einer leeren Eiswaffel und tränenden Augen? Das Eis ist von der Waffel gefallen, weil es von jemandem geschubst wurde. Unschlüssige Momente werden von unserem Gehirn einfach nicht akzeptiert.
In eben solchen Momenten offenbart sich eine weitere Funktion des Erzählens: Für unsere innere Ordnung sind sie mehr als wichtig. Unvollständigkeit ist für den Menschen kognitiv beinahe unerträglich. Für unseren Kopf ist es äußerst anstrengend, zwei unverbundene Ereignisse einfach so nebeneinander stehen zu lassen. Also strukturieren wir sie, bauen Brücken und schaffen Verbindungen, die Sinn entstehen lassen. Und mit dem Sinn und dem damit einhergehenden Aha-Erlebnis, tritt auch immer ein Gefühl von Zufriedenheit ein. Der Mensch will Rätsel lösen und seine Umwelt verstehen. So sind wir einfach.
Fassen wir also zusammen: Wir können uns Fakten besser merken, wenn sie in Form einer Geschichte präsentiert werden, sie fördern die Identitätsbildung und sie bescheren uns – falls die Handlung Sinn ergibt – ein Gefühl von Zufriedenheit. Klingt das nicht nach einem idealen Outcome von gelungenem Marketing?
In der Tat. Und diese Erkenntnis reformierte im ausgehenden 20. Jahrhunderts nach und nach die Marketinglandschaft. Während sich Werbung zu Beginn des modernen Marketings in den 1950er-Jahren erst einmal auf nüchternen Produktbeschreibungen konzentrierte, offenbarte sich die Macht des Erzählens spätestens mit dem Einzug des Fernsehers und der durch ihn ermöglichten visuellen Kommunikation: Geschichten besitzen die einzigartige Fähigkeit, Produkte und Dienstleistungen nicht nur auf faktischer Ebene zugänglich, sondern durch die Einbettung in fesselndes Storytelling emotional erlebbar zu machen.
Ein letzter wichtiger Wendepunkt hin zum Story-basierten Marketing war schließlich der sogenannte Narrative Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften in den 1990er-Jahren. In dieser Zeit wurde das bisher geltende, statische Verständnis von Identität verworfen und durch die Auffassung ersetzt, dass Identität in der Interaktion mit der Umwelt entsteht und konstruiert wird. Sie ist eine flexible und damit durch gezielte Narrative beeinflussbare Größe. Unternehmen verstanden zu diesem Zeitpunkt, dass die Art, wie sie von ihren Produkten erzählen, einen Einfluss auf ihre Kund*innen hat. Wenn sie eine bestimmte Zielgruppe zum Kauf anregen wollten, mussten sie ihre Werbestrategie einfach an jene Stories anpassen, die diese Gruppe gerne über sich selbst erzählte. Spätestens in den frühen 2000ern war dem Storytelling dann der Weg ins Marketing geebnet. Internetbasierte Kommunikation und die Dialogfunktion der Sozialen Medien erlauben es Unternehmen, ihre Geschichte selbst zu erzählen und dabei nicht mehr nur auf TV-Spots oder Werbeplakate zurückzugreifen. Und das können sie mittlerweile auf unzählige verschiedene Kanäle tun. Ob Blogartikel, Fotobeitrag, Story-Post, Website-Text, Thread, Video oder bestenfalls alle gemeinsam – Geschichten können immer wieder aus anderen Perspektiven und über einen längeren Zeitraum erzählt werden und so den Blick der Konsument*innen auf die jeweilige Marke langfristig formen.
Aber wie erzählt man denn nun die perfekte Story? Auf diese Frage gibt es unzählige Antworten. Damit man angesichts dieser Informationsflut nicht den Mut verliert, sei von vornherein schon einmal gesagt, dass das Geschichtenerzählen prinzipiell ganz von selbst und auch ohne großes Überlegen überall passiert. Es beginnt mit den Gesprächen an der Kaffeemaschine oder beim Zusammenfassen der Firmengeschichte im Bewerbungsgespräch. Zum wirklichen Storytelling avancieren Erzählungen aber erst dann, wenn sie aktiv und mit strategischem Hintergrund verbreitet werden. Und wenn sie potentielle Kund*innen auch wirklich ansprechen.
Denn das Hauptziel des Marketings ist die Kund*innenbindung. Und um möglichst viele Menschen an die eigene Marke zu binden, ist es entscheidend, deren Interesse auf sich zu ziehen. Doch das ist bei der multimedialen Dauerbeschallung, der wir heutzutage von allen Seiten ausgesetzt sind, gar nicht mehr so einfach. Vielleicht erlebt strategisches Storytelling auch aus genau diesem Grund gerade seine Blütezeit: Geschichten bieten Identifikationspotential und Menschen werden hellhörig, wenn sie das Gefühl haben, sich in etwas wiederzuerkennen. Geschichten machen schlicht und einfach neugieriger als abstrakte Abhandlungen.
Eine Geschichte zu erzählen, ist an sich nicht schwer, denn die meisten Narrative folgen – auf die Grundbausteine heruntergebrochen – einem recht simplen Schema: A will über B zu C kommen. Die erzählerische Richtung will nach vorne, vom Anfang über ein Hindernis zum Ende. Trotzdem kann es nie schaden, sich für Handlungsmuster und Struktur etwas Hilfe bei den Klassikern des Geschichtenerzählens zu holen.
Einer davon heißt Aristoteles und kommentiert seine dreiteilige Dramenstruktur mit den Worten: „Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat.“ Hier besteht eine gelungene Geschichte aus einem Anfang (Konflikt und Charaktere werden vorgestellt), der Mitte (Höhepunkt der Handlung) und einem Schluss (Konflikt wird gelöst). Nach dem Anfang ereignet sich das sogenannte „erregende Moment“, in dem sich die Handlung verengt, und auf die Mitte folgt kurz vor dem Schluss das „retardierende Moment“, in welchem die Konfliktlösung noch einmal kurz hinausgezögert wird. Spannung ist hier garantiert und wer dieses Modell im Marketing anwendet, muss eigentlich nur darauf achten, dass alle Elemente schlüssig erzählt werden. Und darauf, dass der Konflikt bestenfalls nicht in der Tragödie endet.
Auch die 7 Basic Plots sind ein geeigneter Leitfaden für Handlungsmuster, die garantiert funktionieren. Christopher Booker veröffentlichte sie 2004 in seinem gleichnamigen Buch, das beliebte Erzählungen auf ihre psychologischen Dimensionen hin untersucht. Folgende „Plots“ haben sich hier herauskristallisiert:
Ob man sich beim Erzählen der eigenen Story nun an solche vorgegebenen Muster halten mag, oder doch lieber der eigenen Kreativität freien Lauf lassen will, sei jedem selbst überlassen. Wichtig ist nur, dabei nicht das Wesentliche aus den Augen zu verlieren, und es mit dem Pathos nicht zu übertreiben. Denn eine gute Geschichte sollte neben schlüssig und mitreißend vor allem eins sein: authentisch.